Hans Christian Andersen
Sämmtliche Märchen, 1862

Die Hirtin und der Schornsteinfeger


Hast Du wohl je einen recht alten Holzschrank, ganz schwarz vor Alter und mit ausgeschnitzten Schnörkeln und Laubwerk daran, gesehen? Gerade ein solcher stand in einer Wohnstube; er war von der Urgroßmutter ererbt und mit ausgeschnitzten Rosen und Tulpen von oben bis unten bedeckt. Da gab es die sonderbarsten Schnörkel, und aus diesen ragten kleine Hirschköpfe mit Geweihen hervor. Mitten auf dem Schranke aber stand ein ganzer Mann geschnitzt; er war freilich lächerlich anzusehen und grinste auch, denn Lachen konnte man es nicht nennen; er hatte Ziegenbocksbeine, kleine Hörner am Kopfe und einen langen Bart. Die Kinder im Zimmer nannten ihn immer den Ziegenbocksbein - Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeant: das war ein Name, schwer auszusprechen, und es gibt nicht Viele, die diesen Titel bekommen; aber ihn ausschnitzen zu lassen, das war auch etwas. Doch nun war er ja da! Immer sah er nach dem Tische unter dem Spiegel, denn da stand eine liebliche kleine Hirtin aus Porzellan. Die Schuhe waren vergoldet, das Kleid mit einer rothen Rose geschmückt, und dazu hatte sie einen Goldhut und einen Hirtenstab; sie war wunderschön. Dicht neben ihr stand ein kleiner Schornsteinfeger, so schwarz wie eine Kohle, übrigens aber auch aus Porzellan; er war eben so rein und fein, als irgend ein Anderer; daß er ein Schornsteinfeger war, das war ja nur etwas, was er vorstellte; der Porzellanarbeiter hätte ebenso gut einen Prinzen aus ihm machen können, denn das war einerlei!
Da stand er so niedlich mit seiner Leiter und mit einem Antlitz, so weiß und roth wie ein Mädchen; und das war eigentlich ein Fehler, denn etwas schwarz hätte er wohl sein sollen. Er stand ganz nah bei der Hirtin; sie waren beide hingestellt, wo sie standen; da sie nun aber einmal hingestellt waren, so hatten sie sich verlobt. Sie paßten ja zu einander; sie waren junge Leute, sie waren von demselben Porzellan und Beide waren gleich zerbrechlich.
Dicht bei ihnen stand noch eine Figur, die war dreimal größer. Es war ein alter Chinese, der nicken konnte. Er war auch aus Porzellan und sagte, er sei Großvater der kleinen Hirtin; aber das konnte er wohl nicht beweisen. Er behauptete, daß er Gewalt über sie habe, und deshalb hatte er dem Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeanten, der um die kleine Hirtin freite, zugenickt.
"Da erhältst Du einen Mann," sagte der alte Chinese, "einen Mann, der, wie ich fast glaube, von Mahagoniholz ist. Er kann Dich zur Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeantin machen; er hat den ganzen Schrank voll Silberzeug, ungerechnet, was er in den geheimen Fächern hat!"
"Ich will nicht in den dunkeln Schrank hinein!" sagte die kleine Hirtin. "Ich habe sagen hören, daß er elf Porzellanfrauen darin hat!"
"Dann kannst Du die zwölfte werden!" sagte der Chinese. "Diese Nacht, sobald es in dem alten Schranke knackt, sollt Ihr Hochzeit halten, so wahr ich ein Chinese bin!" Und darauf nickte er mit dem Kopfe und fiel in Schlaf.
Aber die kleine Hirtin weinte und blickte ihren Herzallerliebsten, den Porzellan-Schornsteinfeger, an.
"Ich möchte Dich bitten," sagte sie, "mit mir in die weite Welt hinaus zu gehen, denn hier können wir nicht bleiben!"
"Ich will Alles, was Du willst!" sagte der kleine Schornsteinfeger. "Laß uns gleich gehen! Ich denke wohl, daß ich Dich mit der Profession ernähren kann!"
"Wenn wir nur glücklich vom Tische hinunter wären!" sagte sie. "Ich werde nicht froh, bevor wir in die weite Welt hinaus sind!"
Und er tröstete sie und zeigte, wie sie ihren kleinen Fuß auf die ausgeschnittenen Ecken und das vergoldete Laubwerk am Tischfuße hinabsetzen sollte; seine Leiter nahm er auch zu Hülfe, und da waren sie unten auf dem Fußboden. Aber als sie nach dem alten Schranke hinsahen, war solche Unruhe darin; alle die ausgeschnittenen Hirsche steckten die Köpfe weiter hervor, erhoben die Geweihe und drehten die Hälse; der Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeant sprang hoch in die Höhe und rief zum alten Chinesen hinüber: "Nun laufen sie fort! Nun laufen sie fort!"
Da erschraken sie etwas und sprangen geschwind in den Schubkasten des Fenstertrittes.
Hier lagen drei bis vier Spiele Karten, die nicht vollständig waren, und ein kleines Puppen-Theater, welches, so gut es sich thun ließ, aufgebaut war. Da wurde Komödie gespielt, und alle Damen, carreau wie coeur, tréfle wie pique, saßen in der ersten Reihe und fächelten sich mit ihren Tulpen; und hinter ihnen standen alle Buben und zeigten, daß sie Kopf hatten, sowohl oben als unten, wie die Spielkarten es haben. Die Komödie handelte von zwei Personen, die einander nicht bekommen sollten, und die Hirtin weinte darüber, denn es war gerade wie ihre eigene Geschichte.
"Das kann ich nicht aushalten!" sagte sie. "Ich muß aus dem Schubkasten heraus!" Aber als sie auf dem Fußboden anlangten und nach dem Tisch hinaufblickten: da war der alte Chinese erwacht und schüttelte den ganzen Körper; unten war er ja ein Klumpen!
"Nun kommt der alte Chinese!" schrie die kleine Hirtin und fiel auf ihre Porzellan-Knie nieder: so betrübt war sie.
"Es fällt mir etwas ein!" sagte der Schornsteinfeger. "Wollen wir in die große Potpourrivase, die in der Ecke steht, kriechen. Da können wir auf Rosen und Lavendel liegen und ihm Salz in die Augen werfen, wenn er kommt."
"Das kann nichts nützen!" sagte sie. "Ueberdies weiß ich, daß der alte Chinese und die Potpourrivase mit einander verlobt gewesen sind, und es bleibt immer etwas Wohlwollen zurück, wenn man in solchen Verhältnissen gestanden hat. Nein, es bleibt uns nichts übrig, als in die weite Welt hinauszugehen!"
"Hast Du wirklich Muth, mit mir in die weite Welt hinauszugehen?" fragte der Schornsteinfeger. "Hast Du bedacht, wie groß die ist, und daß wir nie mehr hierher zurückkommen können?"
"Das habe ich!"sagte sie.
Und der Schornsteinfeger sah sie ganz fest an und dann sagte er: "Mein Weg geht durch den Schornstein! Hast Du wirklich Muth, mit mir durch den Ofen, sowohl durch den eisernen Kasten, als durch die Röhre zu kriechen? Dann kommen wir hinaus in den Schornstein, und da verstehe ich mich zu tummeln! Wir steigen so hoch, daß sie uns nicht erreichen können, und ganz oben geht ein Loch in die weite Welt hinaus."
Und er führte sie zu der Ofenthür hin.
"Da sieht es schwarz aus!" sagte sie, aber sie ging doch mit ihm, sowohl durch den Kasten, wie durch die Röhre, wo die pechfinstere Nacht herrschte.
"Nun sind wir im Schornstein!" sagte er. "Und sieh! sieh! dort oben scheint der herrlichste Stern!"
Und es war ein wirklicher Stern am Himmel, der gerade zu ihnen hinab schien, als wollte er ihnen den Weg zeigen. Und sie kletterten und krochen; ein gräulicher Weg war es, so hoch, so hoch; aber er hob und erleichterte; er hielt sie und zeigte die besten Stellen, wo sie ihre kleinen Porzellan-Füße hinsetzen könne; und so erreichten sie den Schornstein-Rand und auf den setzten sie sich; denn sie waren tüchtig ermüdet, und das konnten sie auch wohl sein.
Der Himmel mit allen seinen Sternen war oben über ihnen, und alle Dächer der Stadt tief unten. Sie sahen so weit umher, so weit hinaus in die Welt. Die arme Hirtin hatte es sich nie so gedacht; sie lehnte sich mit ihrem kleinen Kopf an ihren Schornsteinfeger und dann weinte sie, daß das Gold von ihrem Leibgürtel absprang.
"Das ist allzuviel!" sagte sie. "Das kann ich nicht ertragen! Die Welt ist allzugroß! Wäre ich doch wieder auf dem Tisch unter dem Spiegel! Ich werde nie froh, ehe ich wieder dort bin! Nun bin ich Dir in die weite Welt hinaus gefolgt, nun kannst Du mich auch wieder zurückbegleiten, wenn Du mich wirklich lieb hast."
Und der Schornsteinfeger sprach vernünftig mit ihr, sprach von dem alten Chinesen und vom Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeanten; aber sie schluchzte so gewaltig und küßte ihren kleinen Schornsteinfeger, sodaß er nicht anders konnte, als sich ihr fügen, obgleich es thöricht war.
Und so kletterten sie mit vielen Beschwerden den Schornstein wieder hinunter. Und sie krochen durch die Röhre und den Kasten: das war gar nichts Schönes! Und dann standen sie in dem dunkeln Ofen; da horchten sie hinter der Thür, um zu erfahren, wie es in der Stube aussehe. Dort war es ganz stille; sie sahen hinaus - ach, da lag der alte Chinese mitten auf dem Fußboden. Er war vom Tisch heruntergefallen, als er hinter ihnen her wollte, und lag nun in drei Stücke zerschlagen: der ganze Rücken war in einem Stücke abgegangen und der Kopf war in eine Ecke gerollt. Der Ziegenbocksbein - Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeant stand, wo er immer gestanden hatte, und dachte nach.
"Das ist gräßlich!" sagte die kleine Hirtin. "Der alte Großvater ist in Stücke zerschlagen, und wir sind Schuld daran! Das werde ich nicht überleben!" Und dann rang sie die kleinen Hände.
"Er kann noch genietet werden!" sagte der Schornsteinfeger. "Er kann noch genietet werden! - Sei nur nicht so heftig! Wenn sie ihn im Rücken kitten und ihm eine gute Niete im Nacken geben: so wird er so gut wie neu sein und kann uns noch manches Unangenehme sagen!"
"Glaubst Du?" sagte sie. Und dann krochen sie wieder auf den Tisch hinauf, wo sie früher gestanden hatten.
"Sieh, so weit kamen wir!" sagte der Schornsteinfeger. "Da hätten wir uns alle Mühe ersparen können!"
"Hätten wir nur den alten Großvater wieder genietet!" sagte die Hirtin. "Ob das sehr theuer ist?"
Und genietet wurde er. Die Familie ließ ihn im Rücken kitten; er bekam eine gute Niete im Halse; er war so gut wie neu: aber nicken konnte er nicht mehr.
"Sie sind wohl hochmüthig geworden, seitdem Sie in Stücke geschlagen sind?" sagte der Ziegenbocksbein-Oberunduntergeneralkriegscommandirsergeant. "Mir deucht nicht, daß Sie Ursache hätten, so gefährlich zu thun. Soll ich sie haben oder soll ich sie nicht haben?"
Und der Schornsteinfeger und die kleine Hirtin sahen den alten Chinesen so rührend an; sie fürchteten, er möchte nicken. Aber das konnte er nicht; und es war ihm fatal, einem Fremden zu erzählen, daß er beständig eine Niete im Nacken habe. Und so blieben die Porzellan-Leute beisammen, und sie segneten des Großvaters Niete und liebten sich, bis sie zerbrachen.

Hans Christian Andersen (1805-1875)